Im Vordergrund sitzt Polizistin Sandra Müller. Sie befindet sich in einem Trainingsraum und trägt ein Trikot der Invictus Games. Im Hintergrund sind Gewichte auf Halterungen zu sehen.
Unbesiegt forever
Tribünen in blaues Licht getaucht, gelbe Strahler Richtung Himmel, auf den Rängen 20.000 jubelnde Zuschauer. Alles wie bei Olympia, dachte Sandra Winkler. Die Polizistin war bei den Invictus Games in der Düsseldorfer Arena dabei.
Streife-Redaktion

An den Tag, der ihr Leben in ein Leben davor und ein Leben danach trennt, hat Polizeihauptkommissarin Sandra Winkler (54) keine Erinnerung mehr. Es war der 27. Dezember 2017. Sie warteten mit Blaulicht auf dem Standstreifen der A 61 – sie, die Kollegin und der Praktikant. Weil von der Autobahnpolizei gerade keiner in der Nähe war, sollte die Streife der Stadtpolizei Viersen einen offenbar betrunkenen Lkw-Fahrer aus dem Verkehr ziehen. 

Winklers Kopf ist leer, ein Schutzmechanismus. Sie hat keine Bilder mehr von dem Moment, als der 40-Tonner in sie hineinkrachte, die Kollegin tötete, den Praktikanten schwer verletzte, sie selbst lebensgefährlich. Die Bilder, die sie begleiten, sind dafür heute andere. Die vom langen, mühsamen Weg zurück ins Leben und in den Dienst. Und die besten Bilder sind die jüngsten, der Höhepunkt, die Belohnung für all ihre Anstrengungen: die Bilder ihrer Teilnahme an den Invictus-Sportwettkämpfen. Sie fanden im September in Düsseldorf unter dem Motto „A Home for Respect“ statt.

Invictus kommt aus dem Lateinischen und bedeutet unbesiegt. Unbesiegt von dem, was die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in ihrem Dienst erlebt haben. Meist sind es Soldatinnen und Soldaten, die bei ihrem Einsatz schwer versehrt wurden, an Körper oder Seele, oft beides. In diesem Jahr nahmen erstmals auch Feuerwehrleute und Polizisten, die nicht heil aus einem Einsatz herausgekommen sind, an den Spielen teil. Prinz Harry gründete die Invictus Games im Jahr 2014. Die Spiele fanden damals in London statt, danach ging es nach Orlando, Toronto, Sydney und Den Haag.

Sandra Winkler war eine von nur drei deutschen Polizeibeamtinnen und -beamten und die einzige Landespolizistin, die in Düsseldorf dabei war. „Ein Gänsehaut-Erlebnis“, wie sie sagt. Wegen der wehenden Flaggen, wegen der 20.000 Zuschauer in der Düsseldorfer Arena beim Einmarsch der 22 Nationen. Und weil Winkler bei dem, was sie seit dem Unglück gemacht hat, um sich über den Sport in den Alltag zurückzukämpfen, auch immer an die getötete Kollegin denkt. „Die guckt mir von oben zu und sagt: Genau richtig.“

Winkler hatte ein Schädel-Hirn-Trauma, eine Hirnblutung, beide Schlüsselbeine waren gebrochen. Dass sie überlebte, schreibt sie auch ihrer Grundfitness zu, dem Sport, der schon immer ihre Leidenschaft war. Vor allem das Laufen. Früher hatte sie an Polizeimeisterschaften teilgenommen, Sprint und Mittelstrecke, auf Landes- und sogar auf Bundesebene. Im ersten Jahr nach dem Unglück durfte sie überhaupt nicht mehr laufen, wegen der Erschütterungen. Mehr als Walken erlaubten ihr die Ärzte nicht. Aber so, wie sie sich in den Beruf zurückarbeitete – heute sitzt sie im Verkehrskommissariat in Willich am Niederrhein –, so auch in ihren Sport.

2019 der erste 5-Kilometer-Lauf unter 30 Minuten, kurz danach lief sie wieder unter 25 und irgendwann sprach sie ihr Leiter Personalangelegenheiten an, ob sie nicht an den Invictus Games teilnehmen wolle. Die würden 2023 vor der Haustür stattfinden, in Düsseldorf. Winkler nahm an Auswahltests teil, überstand sie, absolvierte in Warendorf an der Sportschule der Bundeswehr elf Wochen Trainingslager und meldete sich für vier Sportarten an: Mittelstrecke über 1.500 Meter und über 800 Meter. Außerdem: Indoor-Rudern, Diskuswurf und Weitsprung.

Am 9. September war es so weit: Sie war im Stadion dabei, als Prinz Harry die Eröffnungsrede hielt, und in diesem Fall, sagt Winkler, war Dabeisein wirklich alles. Natürlich ärgert sie sich noch immer, dass ihr im Diskuswurf am Ende sechs Zentimeter zu Bronze fehlten. Aber darum geht es bei den Invictus-Spielen nicht. Alle, die mitmachen, haben schon gewonnen. Weil sie Schicksalsschläge besiegt oder wenigstens den Kampf dagegen aufgenommen haben, um sich nicht den Rest ihres Lebens davon zerstören zu lassen.

In dringenden Fällen: Polizeinotruf 110